Über die Begegnungen nach dem Tod unserer Tochter Nadia haben wir bisher nur zu ganz engen Freunden gesprochen. Die Erstellung dieser Seite ist sehr persönlich und geht uns sehr nahe. Dieses Erlebnis hat sich tief in unsere Erinnerung eingeprägt - daraus schöpfen wir Hoffnung, und darum konnten wir vielleicht unser Leben auch wieder einigermassen "in den Griff" bekommen. Trotzdem - es vergeht kein Tag ohne einen traurigen Gedanken, ohne ein liebevolles "sich erinnern", ohne den Wunsch, das Ganze wäre einfach nie passiert..... 

Menschen, die über den Tod eines Angehörigen traurig sind, finden vielleicht in der Betrachtung dieser Zeilen trost und auch Hoffnung auf eine eigene Begegnung mit ihrer nahestehenden, verstorbenen Liebsten.

 

     

 

Nadia verstarb am 8. Mai 2001 um 15.00 Uhr im Kantonsspital Luzern an den Folgen einer nicht, resp. zu spät diagnostizierten Meningokokken-Hirnhautentzündung. Ihr Todeskampf dauerte 10 Stunden, und während dieser Zeit war sie für uns nicht mehr ansprechbar.

Sobald mein Mann Nadia nachts um 03.00 Uhr ins Spital brachte, versetzten die Ärzte Nadia in ein künstliches Koma, um ihr kleines Herz gegen die massive Behandlung mit stärkstem Antibiotika zu schützen.

Etwa 30 Minuten nachdem Nadia im Koma lag, verrsichterten die Aerzte meinem Mann, dass die Behandlung anschlägt und dass der Verlauf recht gut aussehe. Mein Mann atmete auf, aber nicht lange..........

10 Minuten später rannten mehrere Ärzte und Krankenschwestern in Nadia's Zimmer. Herzstillstand.

Ein erster, verzweifelter Kampf gegen den Tod begann. Der Chefarzt holte meinen Mann in das Behandlungszimmer und befahl ihm, eindringlich auf Nadia einzureden. Sie konnten ihr Herz nicht zum Weiterschlagen bringen. Mein Mann weinte, streichelte Nadia über ihr Köpfchen, und bat sie, für uns doch weiterzuleben. Sie dürfe uns nicht verlassen, wir lieben sie doch so sehr..........

Nadia's Herz begann zaghaft wieder zu schlagen. Der Kreislauf stabilisierte sich wieder, aber für den weiteren Kampf ums Überleben war dieses Herzversagen das Ungünstigste, was passieren konnte. Es schwächte den angegriffenen Kinderkörper noch mehr, und bot dem Bakterium ungehinderten Vormarsch.

Mein Mann rief mich an. Ich konnte den Wortlaut nicht verstehen, so sehr weinte er am Telefon. Noch immer wartete ich auf das Erscheinen meiner Schwiegermutter, denn ich konnte unsere ältere Tochter Tamara nicht alleine zu Hause lassen. Mein Mann fasste sich und erzählte mir stockend das Unfassbare. Geschockt nahm ich die Worte auf, ich war wie gelähmt. Die Worte hallten in meinen Ohren wieder, aber weder mein Kopf noch mein Herz nahmen sie auf. Als mein Mann mit Nadia das Haus verliessen, deutete ausser den komischen blau/roten Streifen an ihrem Bauch nichts auf einen solch dramatischen Verlauf hin! Unruhig musste ich warten, bis meine Schwiegermutter um 05.00 Uhr bei uns eintraf.

Nach einem kurzen Gespräch mit der Schwiegermutter fuhr auch ich ins Spital, mit klopfendem Herzen und einer grossen Ungewissheit. Trotzt all diesen schlechten Mitteilungen dachte ich keine Minute an "Tod".

In der Intensivstation sah ich dann meine Nadia. Überall waren Schläuche und Maschinen. Bereits schon waren ihre Füsse, Unterschenkel, Finger, Hände und Unterarme blauschwarz. Meine Welt stürzte von einer Sekunde zur anderen zusammen. Ich setzte mich ganz nahe zu ihr hin, streichelte Nadia über ihr Köpfchen und bat sie, zu uns zurückzukommen.

Stunden vergingen. Wir weinten, hofften, bangten, beteten und klagten. Aber nichts konnte dieses Bakterium davon abbringen, den Körper von Nadia zu zerstören. Immer weiter breitete sich die blaue Schwärze aus. Um die Mittagszeit rief uns der Chefarzt in sein Büro, um den weiteren Verlauf zu besprechen.

Nadia's Körper sei zerstört. Sie hätte keine Hirnströme mehr und somit sei sie eigentlich Tod. Es gäbe für Nadia leider keine Hoffnung mehr. Der Arzt liess uns alleine. Der Entschluss, ob die Maschinen abgestellt werden sollten oder nicht, lag in unseren Händen. Der schwerste Entscheid unseres Lebens musste gefällt werden. Der Entscheid für ein Leben ohne unsere Tochter.

Wir gingen zurück in Nadia's Zimmer. Sie war stabil. Plötzlich fingen ihre Augenlider an zu zittern - ich sah einen kleinen, weissen Schimmer. Ihre Hand zuckte. Ich fuhr die Schwester an, dass Nadia doch noch zu Bewusstsein kommen würde. Die Schwester schüttelte den Kopf - nein, das seien nur Nervenzuckungen. Ich blickte sie ungläubig an und sagte, wir möchten noch warten. Vielleicht doch auf ein Wunder?

Eine weitere Stunde verstrich. Das Wunder trat nicht ein. Die Zuckbewegungen wiederholten sich nicht. Mein Mann und ich standen an Nadia's Bett. Abwechslungsweise betrachteten wir Nadia - dann den Monitor. Nadia war noch immer stabil, aber Hoffnung bestand keine mehr. Nadia's Haut war schon fast komplett schwarz - nur ihr liebes Gesicht zeigte nur vereinzelt ein paar Flecke auf. Ich beugte mich über Nadia und sprach ihr zu: "Geh nach Hause Nadia, geh zu Gott in den Himmel. Wir lieben dich, aber wir halten dich nicht mehr länger hier. Geh, wohin du gehen musst".

Nachdem ich diese Worte aussprach, veränderten sich Nadia's Werte sofort. Ihr Kreislauf kolabierte, der Blutdruck fiel ins Bodenlose.

Die Ärzte versprachen, Nadia noch solange stabil zu halten, bis wir alle Familienangehörigen verständigt hätten. Wir wollten, dass Nadia im Beisein aller Personen, die für sie während ihres kurzen Lebens wichtig waren, sterben konnte.

Alle waren gekommen. In dem kleinen Raum stellte ein Pfleger einen bequemen Sessel für mich hin. Dann begannen die Krankenschwestern, die unzähligen Schläuche von Nadia abzunehmen, und ganz zum Schluss entfernten sie den Lufttubus. Nadia bäumte sich auf und fing an zu husten. Wieder dachten wir,  dass sie das Bewusstsein wiedererlangen würde. Wieder wurde uns erklärt, dass es sich nur um eine normale Reaktion handle. Nach der Entfernung war Nadia wieder regungslos. Die Schwester bat mich, im Stuhl platz zu nehmen, und man legte mir Nadia in die Arme. Nadia atmete noch ganz schwach und leise.

Ein Spitalpriester war anwesend. Er segnete Nadia und wir sprachen zusammen ihr Nachtgebet:

"Schutzengeli mein, lass mich dir empfohlen sein. Tag und Nacht ich bitte dich, schütz, regier und leite mich. Hilf mir Leben gut und fromm, bis ich zu dir in den Himmel komm - Amen".

Nadia war von uns gegangen. Es gab nichts, gar nichts, was wir dagegen tun konnten. Sie war zu ihrem Schutzengel und zu Gott heimgekehrt - in Frieden, ohne dass sie noch lange gequält wurde. Uns blieb nur das weinen, das "nicht verstehen", das Unfassbare... - und die ewige Frage: WIESO??

Noch lange hielten wir Nadia im Arm. Nadia's Pate fuhr zu uns nach Hause, und brachte ein Kleidchen für Nadia. Ein blau/weisses Kleidchen, welches sie schon im Winter immer anziehen wollte. - Immer wieder musste ich sie vertrösten, dass es noch zu kalt für ein Sommerkleidchen sei. Nun durfte sie es tragen, und es mitnehmen.

Wir halfen der Schwester, Nadia anzuziehen. Danach legten wir sie zurück in das Bettchen. Es war ca. 18.00 Uhr, als wir das Spital verliessen. Vorher legten wir unseren Wunsch nahe, dass wir Nadia bis zu ihrer Beerdigung nach Hause holen möchten. Da die Bakterieninfektion Meningokokken sehr ansteckend ist, mussten wir für die Überführung zuerst eine Bewilligung vom Kantonsarzt erhalten. Diese wurde uns erteilt, und der Transport wurde für den folgenden Morgen organisiert.

Zuhause. Es war, als hätte uns jemand heftig auf den Kopf geschlagen, und dass dort nun ein Vakuum war. Wir sassen nur bewegungslos am Küchentisch. Alles war so unwirklich, ein Traum - ein Albtraum.

Abends um 21.00 Uhr legten wir uns nieder, und versuchten zu schlafen. Unglaublich, aber es gelang uns ziemlich schnell - nur dem ganzen Schmerz irgendwie entgehen, das war unser Ziel.

Um 00.30 Uhr erwachte ich heftig aus dem Schlaf. Ich hatte Nadia's Stimme gehört, ganz laut und deutlich. Sie rief "Mami chom!" (auf Schriftdeutsch - Mami komm). Ich stand auf, und dachte, dass dies eine Reaktion von meinen überreizten Nerven war. Ich trank ein Glas Milch, und ging wieder ins Bett. Aber ich fand keine Ruhe. Etwas "riss" an mir, machte mich unruhig, bis ich wieder aufstand. Ich wandelte in der Wohnung herum, und dachte, dass ich noch ganz verrückt werde, aber die Nervosität nahm immer mehr zu.

Schliesslich kleidete ich mich an, schrieb meinem Mann eine Notiz auf einen Zettel "ich bin zu Nadia gefahren", und verliess die Wohnung. Während der Fahrt war ich ganz ruhig, und traf kurz vor 01.30 Uhr beim Spital an. Ich läutete die Nachtschwester heraus, und erklärte ihr, dass ich zu meinem Kind wolle.

Sie liess mich eintreten und ich ging zielstrebig zum Aufzug. Die Schwester hielt mich verlegen auf, und teilte mir leise mit, dass sie Nadia verlegt hätten . Nun gut, dann solle sie mich dorthin bringen. Die Nachtschwester telefonierte kurz in Intensivstation hinauf, und bald darauf erschien eine andere Krankenschwester, welche mich in den Lift begleitete. Wir fuhren 2 Stockwerke hinunter.

Die Lifttür öffnete sich und ich erblickte einen schwach beleuchteten Gang. Dort standen ausrangierte Spitalgegenstände in einem wirren durcheinander: defekte Betten, Nachttische, sonstiges Gerümpel. Ich sah die Schwester entsetzt an - wo waren wir nur?

Sie führte mich durch diesen Irrgarten und öffnete hinten im Gang eine Türe. Dort lag meine kleine Nadia in ihrem Bettchen. Ich war schockiert, entsetzt und wütend! Keinen Schritt würde ich mich hier wegbewegen! Wenn es sein musste, würde ich die restliche Nacht in dieser grässlichen Kammer zusammen mit meiner Tochter verbringen.

Es war unbegreiflich - meine Tochter wurde wie Müll behandelt - zwar in einem Abschlusszimmer - aber es war einfach entwürdigend. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich Nadia's Stimme tatsächlich gehört hatte. Das konnte kein Zufall sein. 

Die Schwester war sehr verständnisvoll, und bot mir an, Nadia in ihr ursprüngliches Zimmer zurückzubringen. Sofort fing ich an, ihr Bett aus dieser grässlichen Kammer hinaus zu schieben. Wieder in der Intensivstation angekommen, fragte die Schwester, ob sie mir auch ein Bett zum ausruhen bringen solle. Dieses Angebot nahm ich gerne an.

Als wir das Klappbett im Zimmer aufstellten machte mir die Schwester noch ein weiteres Angebot: ob wir Nadia in meine Schafstätte legen wollen, damit ich ganz nahe bei ihr sein könne? Nadia's Tod bereitete mir keine Furcht. Ich war froh, ihr in dieser Nacht meine Liebe zu beweisen. Ich legte mich zu ihr ins Bett, und umarmte sie ganz fest. Die Schwester liess uns taktvoll allein.

Nadia war noch immer warm. Ich umarmte sie, küsste und streichelte sie - und redete mit ihr. Es war ein Abschiednehmen - für immer. Ich war glücklich, dass sie mich gerufen hatte. Dass ich die Möglichkeit hatte, bei ihr zu sein, zum letzten Mal. Und ich schlief ein, mit Nadia in meinen Armen.

Mein Mann folgte am Morgen. Während der Nacht erwachte er, und fand meinen Zettel. In meiner Aufregung fand ich wohl nicht die richtigen Worte, und hatte mich nicht verständlich ausgedrückt. Er machte sich unglaubliche Sorgen, dass ich mir etwas schreckliches angetan hätte. Nach einem kurzen Telefonat mit dem Kinderspital wurde er beruhigt, und von meinem Eintreffen unterrichtet.

Nadia's Heimtransport war auf den Nachmittag ca. 15.00 Uhr geplant. Wir verabschiedeten uns von Nadia, glücklich, dass sie bald bei uns eintreffen würde, und fuhren nach Hause.

Bald nach unserer Rückkehr klagte Tamara über heftige Kopf- und Wadenschmerzen. Wir waren in Panik - nein, nicht auch noch Tamara! Die gleichen Symptome! Auf schnellstem Wege fuhren wir wieder in die Notaufnahme des Spitals.

Tamara wurde gründlich untersucht. Sie hatte hohes Fieber, die Gründe waren noch nicht ausgewertet. Vorsorglich wurde sie aber sofort mit Antibiotika behandelt, und in die Intensivstation gebracht. Sie musste dort ein paar Tage bleiben, bis die Ursachen geklärt waren. Mein Mann blieb bei ihr im Spital. Er fuhr mich nach Hause, und packte einige Sachen für sich und Tamara ein. Meine Schwiegermutter wollte bei mir bleiben, und auch bei uns übernachten, da mein Kreislauf immer wieder zusammenbrach.

Inzwischen war auch Nadia in ihrem kleinen, weissen Sarg eingetroffen. Wir nahmen den Sargdeckel ab, betteten sie in ihrem Zimmer, und zündeten Kerzen an. Es war wunderbar, sie bei uns zu haben.

Abends legte ich mich erschöpft in mein Bett. Vorher rief mein Mann noch an. Die Ergebnisse waren noch immer nicht klar, aber Tamara sei stabil. Es gäbe keinen Grund, sich Sorgen zu machen.

Ich schlief ein. Meine Schwiegermutter übernachtete in Tamara's Zimmer.

Unsere Zimmer liegen wie ein Dreieck zueinander. Nadia's Zimmer links, meins in der Mitte und Tamara's rechts. Meine Schwiegermutter konnte nicht schlafen. Morgens um 03.00 Uhr hörte sie plötzlich ein Rascheln, welches von Nadia's Zimmer herkam.

Sie setzte sich im Bett auf, und lauschte auf das Geräusch. Ganz deutlich konnte sie die im Sarg eingeschlagene Seide knistern hören. Dann leuchtete Nadia´s Zimmer in einem hellen, blendenden, goldenen Glanz.

Aus dem Zimmer führte eine Art "Blitz" - ein goldender Weg führte aus Nadia's Zimmer, und oben auf ihm war eine kleine, blaue, durchscheinende Gestalt zu sehen. Dieser Blitz mit der durchscheinenden Gestalt verliess Nadia's Zimmer, und ging direkt auf mein Zimmer zu - durch die Tür. Mein Schlafzimmer war von Helligkeit erfüllt!

Meine Schwiegermutter bemerkte, dass ich sehr unruhig geschlafen, und mich im Bett hin und her geworfen hatte. Sobald mein Zimmer in diesem unbeschreiblichen Licht leuchtete, seufzte ich kurz auf, und war daraufhin ganz ruhig.

Schade, dass ich dieses Erlebnis nicht selber miterleben durfte - im wachen Zustand - aber auch durch die Erzählung meiner Schwiegermutter bin ich gewiss, dass Nadia heute irgendwie in mir ist. Es tröstet auf eine Weise und doch auch wieder nicht.

Wie gerne würden wir sie in unseren Armen halten und sie aufwachsen sehen........

 

 

 


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